Der oft missverstandene Vers über das Abschneiden von Händen

 

Der Dieb und die Diebin: trennt ihnen ihre Hände ab [فَٱقْطَعُوٓا۟ أَيْدِيَهُمَا ]als Lohn für das, was sie begangen haben, und als ein warnendes Beispiel von Allah. Allah ist Allmächtig und Allweise.

Koran 5:38 [Gängige Übersetzung]

 

Stopp mal kurz.

Du liest die Worte: „trennt ihnen ihre Hände ab." 

Auf den ersten Blick klingt das hart und brutal. Aber der Koran ist kein Buch der Grausamkeit... er spricht von Barmherzigkeit, Vergebung und Weisheit. Könnte es also sein, dass wir diesen Vers falsch verstanden haben?

Lasst uns nicht vorschnell urteilen. Der Koran fordert uns immer wieder dazu auf, nachzudenken und genau hinzusehen:

 

Betrachten sie denn nicht sorgfältig den Koran? Oder sind an ihren Herzen Verriegelungen angebracht?

 Koran 47:24

 

 

(Dies ist) ein gesegnetes Buch, das Wir zu dir hinabgesandt haben, damit sie über seine Zeichen nachsinnen und damit diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.

Koran 38:29

 

 

Schauen wir uns also die verwendeten Wörter genau an: قطع (qaṭʿ) und يد (yad). Wie tauchen sie an anderen Stellen im Koran auf? Und erinnern wir uns an die Geschichte von Yusuf: Dort ging es auch um Diebstahl...aber niemand verlor eine Hand.

 

Lies also weiter; nicht mit Angst, sondern mit offenem Herzen und Neugier.

Am Ende wirst du dir selbst die Frage beantworten können:

Meinte der Koran wirklich das Abschneiden einer Hand  oder haben wir Gottes Gerechtigkeit falsch verstanden?

Werfen wir einen genaueren Blick auf die beiden Wörter, die in diesem Vers den Kern der Aussage tragen:

 

 

قطع (qat) — üblicherweise übersetzt als "abschneiden"

يد (yad) — üblicherweise übersetzt als "Hand"

 

Was bedeutet 'Qat'?

 

Das Wort قطع (qataʿa) erscheint in verschiedenen Formen im gesamten Koran - 36 Mal, um genau zu sein.

 

Doch heißt das in jedem Fall, dass etwas physisch abgeschnitten wird, etwa ein Körperteil?

Nein, keineswegs.

 

In vielen Versen wird qaṭʿ im übertragenen Sinn gebraucht. Es beschreibt Situationen, in denen etwas getrennt, beendet oder gestoppt wird, ganz ohne körperliche Gewalt. Zum Beispiel:

 

  • Beziehungen abbrechen – etwa wenn Menschen ihre familiären oder sozialen Bande „durchschneiden“.

 

  • Hoffnung verlieren – wenn jemand innerlich aufgibt.

 

  • Einen Zustand beenden – etwa das Auflösen von Frieden oder Sicherheit.

 

  • Aggression stoppen – also feindseliges Verhalten unterbinden.

 

  • Kommunikation unterbrechen – wenn der Austausch oder Kontakt nicht mehr stattfindet.

 

 

Diese Verwendungen machen deutlich: qaṭʿ ist ein vielseitiges Wort. Es kann tatsächliches Schneiden meinen, aber ebenso das Trennen im übertragenen Sinn.

 

Deshalb ist es wichtig, beim Vers 5:38 genauer hinzusehen. Der Koran selbst liefert uns genügend Beispiele, dass „qaṭʿ“ nicht automatisch eine körperliche Amputation bedeutet:

Wort Vers Bedeutung
تَّقَطَّعَ Nun seid ihr einzeln zu Uns gekommen, so wie Wir euch das erste Mal erschaffen haben, und ihr habt hinter euch zurückgelassen, was Wir euch übertragen hatten. Und Wir sehen eure Fürsprecher nicht bei euch, von denen ihr behauptet habt, daß sie Teilhaber an euch waren. Nun ist (das Band) zwischen euch abgeschnitten, und entschwunden ist euch, was ihr zu behaupten pflegtet. 6:94 Trennen oder isolieren
وَقَطَّعْنَٰهُمْ Und Wir zerteilten sie auf der Erde in Gemeinschaften. Unter ihnen gab es Rechtschaffene und solche, die dies nicht waren. Und Wir prüften sie mit Gutem und Bösem, auf daß sie umkehren mögen. 7:168 Menschen zerstreuen oder verteilen
يَقْطَعُونَ Auch geben sie keine Spende aus, ob klein oder groß, noch durchqueren sie ein Tal, ohne daß es ihnen (als gute Tat) aufgeschrieben würde, damit Allah ihnen das Beste vergelte von dem, was sie getan haben. 9:121 Durchqueren
وَقَطَّعْنَ Als sie nun von ihren Ränken hörte, sandte sie zu ihnen und bereitete ihnen ein Gastmahl'. Sie gab einer jeden von ihnen ein Messer und sagte (zu Yusuf): "Komm zu ihnen heraus." Als sie ihn sahen, fanden sie ihn groß(artig), und sie zerschnitten sich ihre Hände und sagten: "Allah behüte! Das ist kein Mensch, das ist nur ein ehrenvoller Engel." 12:31 Verletzen oder verwunden [leichter Schnitt]

Was sagt Lane's Lexicon über "قطع"?

 

Was sagt Lane’s Lexicon über „قطع“?

Eines der renommiertesten arabisch-englischen Wörterbücher, Edward Lane’s Arabic-English Lexicon, führt zu قطع (qaṭaʿa) folgende Bedeutungen auf:

 

  • „er schnitt, trennte, teilte oder spaltete eine Sache …“
  • „er beendete etwas …“
  • „er unterbrach oder stellte etwas ein …“
  • „er verweigerte, sperrte oder verhinderte …“

 

Lane bestätigt damit, was wir bereits aus den Koranversen kennen:

قطع hat ein breites Bedeutungsspektrum und meint nicht ausschließlich das Zerschneiden von Fleisch oder Körperteilen.

 

Was ist mit "Hand"? Bedeutet "يد / yad" immer eine physische Hand?

 

Das Wort „يد“ (yad), das in 5:38 meist mit „Hand“ übersetzt wird, erscheint in über 110 Versen im Koran.

 

Doch genau wie im Deutschen ist auch hier die Bedeutung nicht immer wörtlich gemeint. „Hand“ steht häufig für etwas Symbolisches - etwa für Macht, Einfluss oder Kontrolle.

 

 

 

Wort Vers Bedeutung
يَدُ Gewiß, diejenigen, die dir den Treueid leisten, leisten (in Wirklichkeit) nur Allah den Treueid; Allahs Hand ist über ihren Händen. Wer nun (sein Wort) bricht, bricht es nur zu seinem eigenen Nachteil; wer aber das einhält, wozu er sich Allah gegenüber verpflichtet hat, dem wird Er großartigen Lohn geben. 48:10 Symbolisch für göttliche Autorität - keine physische Hand.
أَيْدِيهِمْ Aber sie werden ihn sich niemals wünschen wegen dessen, was ihre Hände (an Taten) vorausgeschickt haben. Und Allah weiß über die Ungerechten Bescheid. 2:95 Bezieht sich auf vergangene Taten, nicht auf Gliedmaßen.
أَيْدِيَهُمْ O ihr, die ihr glaubt, gedenkt Allahs Gunst an euch, (damals) als (gewisse) Leute vorhatten, ihre Hände nach euch auszustrecken, worauf Er ihre Hände von euch zurückhielt. Und fürchtet Allah. Und auf Allah sollen sich die Gläubigen verlassen. 5:11 Macht, Kontrolle

Lane’s Lexicon über „يد“ (yad)

 

Im Arabic-English Lexicon von Edward Lane wird يد (yad) zwar wörtlich mit „Hand“ übersetzt, doch die Bedeutungen gehen weit darüber hinaus. Lane nennt unter anderem:

 

  • Macht und Einfluss
  • Besitz oder Kontrolle
  • Fähigkeit oder Mittel zum Handeln
  • Autorität

 

Damit zeigt sich: Schon in der klassischen Lexikontradition überwiegen die symbolischen und rechtlichen Verwendungen.

 

Das kennen wir auch im Deutschen. Wenn wir sagen:

 

„Er hatte seine Hand im Spiel.“

„Sie hat eine starke Hand im Geschäft.“

 

 

… meinen wir ebenfalls nicht die physische Hand, sondern Einfluss, Macht oder Kontrolle.

 

So wird deutlich: „yad“ steht im Arabischen wie im Deutschen oft für etwas viel Größeres als nur das Körperteil.

5:38 neu denken – Die wahre Bedeutung

 

Wenn wir also die Wörter im Kontext des Korans betrachten, öffnet sich eine andere Perspektive:

 

qaṭʿ kann bedeuten, zu verhindern oder zu unterbrechen, also hier die Mittel oder Möglichkeiten zu blockieren, die den Diebstahl erst ermöglichen.

 

yad steht für Macht, Einfluss oder Kontrolle.

 

In diesem Licht fordert 5:38 nicht unbedingt körperliche Gewalt, sondern Maßnahmen, die verhindern, dass der Dieb erneut stehlen kann. Das kann zum Beispiel bedeuten, ihn zu sperren oder auf andere Weise einzuschränken, sodass die Tat nicht wiederholt wird.

 

 Gibt es weitere Stellen im Koran, die diese Sicht unterstützen?

 

Ein deutliches Beispiel liefert die Geschichte von Yusuf. Auch dort spielt Diebstahl eine Rolle und dennoch verliert niemand seine Hand. Stattdessen wird das Problem durch kluge Maßnahmen, Einschränkungen und Kontrolle gelöst.

 

Im nächsten Abschnitt werden wir diese Geschichte genauer betrachten und sehen, wie sie die These stützt, dass der Koran nicht auf irreversible Bestrafung, sondern auf Verhinderung von Fehlverhalten und gerechte Maßnahmen abzielt.

 

 

Wenn die „beste Geschichte“ uns lehrt, genau hinzusehen

 

Der Koran beginnt die Geschichte von Yusuf mit einer besonderen Aussage:

 

"Wir erzählen dir die beste Geschichte, was Wir dir in diesem Koran offenbart haben; und davor gehörtest du zu denen, die sich dessen nicht bewusst waren." 

Koran 12:3

 

Schon diese Einleitung gibt uns einen Hinweis: Es lohnt sich, genau hinzusehen. Die „beste Geschichte“ ist mehr als ein Zeitvertreib - Jede Szene, jedes Detail hat Bedeutung und kann uns etwas beibringen.

 

Später in der Geschichte wird Yusufs Bruder des Diebstahls beschuldigt: Eine Schale des Königs wird in seinem Besitz gefunden [12:76]. Wenn die Strafe für Diebstahl wörtlich die Amputation der Hände wäre, wäre dies der Moment, an dem der Koran dies demonstrieren müsste.

 

Doch was geschieht?

❌ Keine Hände werden abgehackt

❌ Keine körperliche Strafe

 

Der Koran macht dies kristallklar:

 

12:72 Sie sagten: "Wir vermissen den Kelch des Königs. Wer ihn wiederbringt, erhält die Last eines Kamels, und dafür bin ich Bürge."

12:73 Sie sagten: "Bei Allah, ihr wißt doch, wir sind nicht gekommen, um im Land Unheil zu stiften, und wir sind keine Diebe."

12:74 Sie sagten: "Was soll dann die Vergeltung dafür sein, wenn ihr Lügner seid?"

12:75 Sie sagten: "Die Strafe ist, dass derjenige, in dessen Satteltasche sie gefunden wird, selbst als Strafe dienen wird. So bestrafen wir die Bösen." 

12:76 Er begann (zu suchen) in ihren Behältern vor dem Behälter seines Bruders. Dann holte er ihn aus dem Behälter seines Bruders. So führten Wir für Josef eine List aus. Nach dem System des Königs hätte er unmöglich seinen Bruder nehmen können, es sei denn, daß es Gott wollte. Wir erhöhen, wen Wir wollen, um Rangstufen. Und über jedem, der Wissen besitzt, steht einer, der (noch mehr) weiß.

12:77 Sie sagten: "Wenn er stiehlt, so hat ein Bruder von ihm schon zuvor gestohlen." Aber Yusuf hielt es in seinem Innersten geheim und legte es ihnen nicht offen. Er sagte: "Ihr befindet euch in einer (noch) schlechteren Lage. Und Allah weiß sehr wohl, was ihr beschreibt."

12:78 Sie sagten: "O `Aziz, er hat einen greisen Vater, so nimm einen von uns statt seiner an; denn wir sehen, du gehörst zu denen, die Gutes tun."

12:79 Er sagte: «Gott behüte, daß wir einen anderen nehmen als den, bei dem wir unsere Sachen gefunden haben! Sonst würden wir zu denen gehören, die Unrecht tun.»

 

Wenn die Amputation wirklich das Gesetz Gottes gewesen wäre, wie könnte diese Szene damit vereinbar sein? Genau hier wird deutlich, dass viele gängige wörtliche Interpretationen von 5:38 den Kern der koranischen Gerechtigkeit verfehlen.

 

Die „beste Geschichte“ lädt uns ein, die wirkliche Prinzipien hinter den Worten zu erkennen.

 

Gerechtigkeit im Koran bedeutet Barmherzigkeit, nicht Gewalt

 

Wer aber bereut, nachdem er Unrecht getan hat, und es wieder gutmacht, so nimmt Allah seine Reue gewiß an. Allah ist Allvergebend und Barmherzig.

Koran 5:39

 

Vers 5:38 ist kein Aufruf zu Brutalität. Er ist ein Aufruf zu Weisheit, Maß und Wiederherstellung.

 

Es geht darum:

 

🛑 Das Verbrechen zu stoppen

🛡 Die Gemeinschaft zu schützen

🌱 Dem Übeltäter einen Weg zur Besserung zu öffnen

 

 

فَٱقْطَعُوٓا۟ أَيْدِيَهُمَا

steht nicht für das Zerschneiden von Fleisch. Es bedeutet vielmehr, die Mittel zu unterbrechen, die Schaden verursachen, und den Kreislauf von Ungerechtigkeit zu durchbrechen.

 

Das ist der Geist der Gerechtigkeit im Koran:

 

Fest, aber barmherzig

Ausgewogen und gerecht

 

Denn Gott ist Ar-Rahman – der Allerbarmherzigste.