Ist Kunst wirklich haram?
In vielen muslimischen Haushalten entsteht Kreativität und wird gleichzeitig oft im Keim erstickt. Ein Kind zeichnet ein Gesicht und hört: „Dann kommen keine Engel mehr ins Haus.“ Eine junge Frau malt das Meer und wird vor dem Höllenfeuer gewarnt. Jemand formt eine Figur aus Ton und bekommt gesagt, dass Bildhauer am Tag des Gerichts besonders bestraft werden.
Solche Worte hinterlassen Spuren. Die Angst sitzt tief.
Aber eine wichtige Frage bleibt oft unbeantwortet: Verbietet der Koran Kunst überhaupt?
Gerade heute, wo sich Halbwissen schnell verbreitet und viele religiöse Aussagen unkritisch übernommen werden, lohnt sich ein genauer Blick: Was sagt Gott selbst dazu?
Es geht nicht darum, fertige Antworten zu liefern. Sondern darum, zum Nachdenken anzuregen. Kehren wir zurück zu dem Buch, das sich selbst als „vollständig erklärt“ und „eine Rechtleitung für alle Menschen“ bezeichnet und fragen wir uns: Ist Kunst wirklich haram? Oder wurden wir vielleicht in die Irre geführt?
Gottes Geist – und die Eigenschaften, die wir widerspiegeln sollen

Der Koran lehrt uns, dass Gott den Menschen nicht nur körperlich erschaffen hat. Er hat ihm auch Seinen Geist eingehaucht. Dieser göttliche Hauch ist es, der uns mit Verstand, Bewusstsein und der Fähigkeit ausstattet, Gottes Eigenschaften in uns selbst zu spiegeln: Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit – und auch Kreativität.
Denn wenn Gott bestimmte Eigenschaften trägt, und wir einen Teil Seines Geistes in uns tragen, dann liegt es nahe, dass wir genau diese Qualitäten in unserem Leben sichtbar machen sollen.
Im Koran werden viele von Gottes Namen erwähnt, unter anderem:
- Al-Ḥaqq – Die Wahrheit (Sure 22:6)
- Ar-Raḥmān – Der Barmherzige (Sure 1:1)
- Al-Muṣawwir – Der Gestaltende, der Formen gibt (Sure 59:24)
- Al-Khāliq – Der Schöpfer (Sure 59:24)
Wir sollen wahrhaftig sein, weil Gott die Wahrheit ist.
Wir sollen barmherzig handeln, weil Gott barmherzig ist.
Warum aber gilt es bei der Kreativität, obwohl Gott sich selbst als „der Gestaltende“ und „der Schöpfer“ beschreibt, plötzlich als verdächtig oder gar verboten, wenn wir gestalten, formen oder erschaffen?
Wenn wir Wahrheit und Barmherzigkeit als Spiegel Seines Geistes in uns akzeptieren, warum dann nicht auch Kreativität?
Der Koran verurteilt nicht das Schaffen von Kunst oder Schönheit, er verurteilt Götzendienst.
Die entscheidende Frage ist nicht, dass wir erschaffen, sondern wofür und wem wir mit unserem Schaffen dienen.
Das Beispiel von Isa

Im Koran finden wir ein bemerkenswertes Bild: Isa formt aus Ton die Gestalt eines Vogels. Und mit Gottes Erlaubnis wird diese Figur lebendig. Hier geht es ganz klar um die Erschaffung einer lebendigen Form, also genau das, was in vielen Hadiths - Überlieferungen später als verboten dargestellt wurde. Und doch: Der Koran verurteilt diesen Akt nicht. Er stellt ihn nicht einmal in Frage.
Das zeigt: Das Formen selbst ist nicht das Problem. Entscheidend ist nicht, dass etwas erschaffen wird, sondern warum.
Diese Szene macht deutlich, was sich durch viele Koranverse zieht: Formen und Gestalten sind nicht von Natur aus verboten oder gefährlich. Es ist der Götzendienst, also die falsche Anbetung, die Ehrfurcht vor dem Geschaffenen statt dem Schöpfer, der verurteilt wird. Die Form ist neutral. Die Absicht dahinter entscheidet.
Wenn also das Gestalten mit einem reinen Herzen geschieht, ohne Anmaßung oder falsche Verehrung, warum sollte es dann haram sein?
Im Gegenteil: Der Koran zeigt uns, dass Kreativität ein Teil von uns ist. Ein Spiegel göttlicher Gabe. Kein Tabu, das unterdrückt werden muss, sondern eine Möglichkeit, bewusst und dankbar mit Gottes Erlaubnis zu erschaffen.
Ein Blick auf das Reich von Sulaiman

In Sure 34, Vers 13 wird erzählt, wie Gott Sulaiman ein außergewöhnliches Reich anvertraut mit Macht über die Dschinn, die für ihn arbeiten. Unter den Dingen, die sie für ihn herstellen, werden auch tamāthīl erwähnt – Statuen, Abbilder, gestaltete Formen.
Und was folgt auf diese Beschreibung? Kein Tadel. Keine Warnung.
Stattdessen endet der Vers mit einem Aufruf Gottes: „Arbeitet in Dankbarkeit.“
Das allein sollte uns nachdenklich machen. Wenn das Gestalten von Formen an sich verwerflich wäre, warum wird es dann im Zusammenhang mit einem von Gott auserwählten Gesandten erwähnt, ohne jegliche Kritik?
Warum würde ein Gottesdiener wie Sulaiman, ausgerechnet mit etwas in Verbindung gebracht werden, das angeblich verboten wäre?
Koran vs. Hadith

Der Koran sagt niemals, dass Kunst haram ist
Im Koran gibt es keinen einzigen Vers, der Zeichnen, Bildhauerei oder das Herstellen von Bildern verbietet. Es steht nirgendwo, dass Engel Häuser mit Bildern meiden oder Menschen für das Erschaffen von Bildern bestraft werden.
Doch in der Hadith-Literatur finden sich solche Aussagen:
`Aisha berichtet:
Der Gesandte Allahs (ﷺ) kam von einer Reise zurück, als ich einen Vorhang mit Bildern an der Tür meines Zimmers aufgehängt hatte. Als er das sah, zerriss er ihn und sagte: „Die Menschen, die am Tag der Auferstehung die härteste Strafe erhalten werden, sind diejenigen, die versuchen, wie Allahs Schöpfungen Bilder herzustellen.“ Daraufhin machten wir aus dem Vorhang ein oder zwei Kissen.
(Sahih Bukhari 5954)
Abdullah berichtete, dass der Gesandte Allahs (ﷺ) sagte:
„Wahrlich, die am schwersten Bestraften am Tag der Auferstehung werden die Maler von Bildern sein.“
(Sahih Muslim 2109a)
Abu Talha berichtet:
Ich hörte den Gesandten Allahs (ﷺ) sagen: „Engel der Barmherzigkeit treten nicht in ein Haus ein, in dem sich ein Hund oder ein Bild eines lebenden Wesens (Mensch oder Tier) befindet.“
(Sahih Bukhari 3225)
Diese Überlieferungen sprechen von schweren Konsequenzen für diejenigen, die Bilder oder Statuen herstellen, und ordnen sie zu den schlimmsten Sündern ein.
Was der Koran sagt:
Und wer ist ungerechter, als wer gegen Allah eine Lüge ersinnt oder sagt: "Mir ist (Offenbarung) eingegeben worden", während ihm überhaupt nichts eingegeben worden ist, und wer sagt: "Ich werde hinabsenden, gleich dem, was Allah hinabgesandt hat"? Und wenn du sehen würdest, wie sich die Ungerechten in den Fluten des Todes befinden und die Engel ihre Hände ausstrecken: "Gebt eure Seelen heraus! Heute wird euch mit der schmählichen Strafe vergolten, daß ihr stets über Allah die Unwahrheit gesagt habt und euch gegenüber Seinen Zeichen hochmütig zu verhalten pflegtet".
(Koran 6:93)
Und sagt nicht von dem, was eure Zungen als Lüge behaupten: "Das ist erlaubt, und das ist verboten", um gegen Allah eine Lüge zu ersinnen. Gewiß, denjenigen, die gegen Allah eine Lüge ersinnen, wird es nicht wohl ergehen.
(Koran 16:116)
„Wer ist denn ungerechter, als wer gegen Allah eine Lüge ersinnt oder Seine Zeichen für Lüge erklärt? Jene wird ihr Anteil vom Buch erreichen, bis daß, wenn Unsere Gesandten dann zu ihnen kommen, um sie abzuberufen, sie sagen: "Wo ist das, was ihr außer Allah anzurufen pflegtet?" Sie werden sagen: "Sie sind uns entschwunden." Und sie zeugen gegen sich selbst, daß sie ungläubig waren.
(Koran 7:37)
Der Koran macht deutlich, dass das Erfinden falscher religiöser Gesetze und Lügen über Gott die größte Ungerechtigkeit ist, nicht das Erschaffen von Bildern.
Götzendienst ist das Problem

Ibrahim kritisiert sein Volk nicht dafür, dass sie Formen herstellen, sondern dafür, dass sie diese anbeten. Es geht nicht um die Existenz der Statuen, sondern um die Verehrung und Hingabe, die sie auslösen.
Später zerstört er die Statuen, um eine Botschaft zu vermitteln, nicht um Kunst zu verbieten, sondern um falsche Glaubensvorstellungen zu brechen.
Der Koran nutzt diese Geschichte, um Schirk (Götzenverehrung) zu verurteilen, nicht das Bildhauen oder Gestalten an sich.
Wenn das Formen von Bildern an sich sündhaft wäre, hätte der Koran das klar gesagt. Stattdessen warnt er davor, etwas von Menschen Gemachtem göttliche Macht oder Anbetung zuzuerkennen.
Kehren wir zurück zum Koran

Gott hat uns ein Buch gegeben, das direkt spricht; klar, deutlich und stimmig. Wenn Kunst an sich gefährlich oder verboten wäre, hätte der Koran das unmissverständlich gesagt.
Stattdessen gibt er uns Freiheit, aber verbunden mit Verantwortung.
Lassen wir uns also nicht von Angst oder kulturellen Tabus leiten, sondern von Aufrichtigkeit. Setzen wir unsere Gaben mit Bewusstsein ein. Gestalten wir diese Welt auf schöne, gerechte und achtsame Weise.
Und lassen wir nicht zu, dass etwas als haram bezeichnet wird, was Gott selbst nie verboten hat.